Tierfabeln

Die Anzahl der Tierfabeln im ungarischen Märchengut ist verhältnismäßig gering (3,5 Prozent). Sie lassen sich in zwei große Gruppen teilen. Die eine bilden die lehrhaften Märchen, die letztlich hinduistischen Ursprungs sind und teils durch osteuropäische mündliche Tradition, teils schriftlich durch griechisch-lateinische Vermittlung nach Ungarn gekommen sind. Diese letzteren sind lehrhaft und gelangten auf dem Wege der Predigten zum Volk. Eine andere Gruppe stammt aus alteuropäischen Tiermythen, wobei Literatur und mündliche Überlieferung eng miteinander verflochten sind. Fabeln des Äsop kommen in dieser Gruppe genauso vor wie umgekehrt, in den ungarischen Sammlungen Äsopischer Fabeln vielfach aus der mündlichen Überlieferung stammende Volksmärchen. Eine solche charakteristische Tierfabel ist „Der Fuchs und der Wolf“ (AaTh 1 + AaTh 34 B + AaTh 3*+AaTh 23*)

Der Fuchs und der Wolf

Es waren einmal irgendwo auf der Welt ein Fuchs und ein Wolf. Der Fuchs legte sich auf einen Fahrweg. Da kam ein Fuhrmann des Weges, der nahm ihn auf seinem Karren mit, dort lagen drei Käse. Der Fuchs nahm den Käse, sprang herunter und lief davon.

„Wo hast du den Käse her?“fragte ihn der Wolf.

„Komm mit“, antwortete der Fuchs, „ich werde dir Zeigen, wo du Käse findest.“

Sie gingen zu einem See, es war Nacht, und der Mond spiegelte sich im Wasser. Der Fuchs sprach:

„Wenn du das Wasser austrinkst, dann findest du unten auf dem Grund den Käse.“

Der Wolf begann zu trinken, er trank und trank, aber er konnte den See nicht austrinken, und vom vielen Trinken wurde er ganz krank.

Ein andermal gingen sie zu einem Hochzeitshaus, dort musizierten sie, doch plötzlich riefen beide:

„Wir könnten noch viel schöner musizieren, wenn ihr uns auf den Boden hinauflaßt, wo die Hühner und der Strudel sind!“

Man ließ sie hinauf. Dort schlugen sie sich den Bauch voll, und als sie satt waren, sprangen sie herunter und liefen davon.

Sie liefen eine ganze Weile, da sahen sie einen spitzen Holzpflock vor sich. Der Fuchs sprach zum Wolf.

„Wetten, du kannst nicht über den Holzpflock springen!“

Der Wolf sprang hinüber.

„Spring rückwärts herüber!“ forderte ihn der Fuchs auf.

Der Wolf versuchte es, aber sein Bauch blieb an der Pfahlspitze hängen.

„Schüttle dich“, meinte der Fuchs, „damit du loskommst!“

Der Wolf schüttelte sich, aber der Pfahl drang nur noch tiefer in seinen Bauch.

{G-610.} Da rief der Fuchs:

„In des Vaters und des Sohnes Namen
Hast verdient du dieses Schicksal, Amen.
Weil ein Fohlen, das noch nicht geboren
du gefressen hast samt Schwanz und Ohren.“

Außer den oben besprochenen Märchen finden sich noch verschiedene Märchenformen und -gruppen in größerer oder kleinerer Zahl im ungarischen Märchengut. Unter ihnen lohnt es sich die Novellenmärchen (8,5%), die Märchen vom dummen Teufel (1,5%) und die Narrenmärchen (6,5%) zu erwähnen: nur ein ganz kleiner Bruchteil (1%,) bleibt übrig, der keiner Gruppe zugeteilt werden kann.