{G-73.} Das Geschlecht, die Sippe, die Verwandtschaft

Die Klein- und Großfamilie war eine wirtschaftliche Einheit von Gleichnamigen, die in der Mehrzahl der Fälle auf demselben Grundstück und im selben Haus lebten. Demgegenüber gehörten die Sippe oder das Geschlecht wirtschaftlich nicht zusammen. Die mehr oder weniger enge Verbindung ist durch die Wahrung des gemeinsamen Familiennamens, des Andenkens an die Abstammung von dem gleichen väterlichen Vorfahren gegeben sowie durch die Verteidigung gemeinsamer Interessen innerhalb der Siedlung. Die Sippe und das Geschlecht sind Voneinander sehr schwer zu unterscheiden, weil es sich in verschiedenen Fällen nur um regional vorkommende Synonyme handelt, während sich bei anderen nebeneinander lebenden Gruppen gewisse Unterschiede nachweisen lassen. Die Sippe umfaßt im allgemeinen eine größere Einheit, das Geschlecht dagegen eine kleinere.

Unter den zusammengehörenden ungarischen Wörtern nem, nemzet, nemzetség (Sippe) wird regional, jedoch oft auch innerhalb desselben Gebiets, der mehrere Klein- und Großfamilien umfassende Verwandtschaftsverband bezeichnet. Er läßt sich beim Adel bis in die Landnahmezeit zurückverfolgen, während dies bei den Leibeigenen überwiegend bis ins 16. Jahrhundert möglich ist, als nämlich die Familiennamen immer beständiger wurden. Das bedeutet allerdings nicht, daß der Begriff der Sippe nicht auch schon viel früher allgemein bekannt gewesen wäre.

Abb. 6. Verteilung nach Sippen in einem Dorf.

Abb. 6. Verteilung nach Sippen in einem Dorf.
Rákosd, ehem. Komitat Hunyad, Anfang 20. Jahrhundert.
1. Neuansiedler; 2. die Familien Bertalan; 3. Jakab; 4. Balázsi; 5. Dávid; 6. Farkas; 7. Gergely; 8. Petõ; 9. Oberes Ende; 10. Unteres Ende

Früher wurde die Sippe bis ins siebte Glied zurückgeführt. Bereits im vorigen Jahrhundert ging man davon ab, und in der jüngsten Vergangenheit erstreckte sie sich nur bis zum dritten Glied. Als zugehörig zur Sippe werden gleichermaßen die Lebenden und die Toten betrachtet, im allgemeinen von den Urgroßeltern an bis zu den Vettern und Basen dritten und vierten Grades. Die älteren Sippenangehörigen behielten dies alles im Gedächtnis, und wir wissen von einem Bukowina-Szekler, der 273 Personen namentlich aufzählte, die zu seiner Sippe gehörten beziehungsweise gehören. Die ungarische Sippe war streng exogam, das heißt, eine Heirat innerhalb der Sippe nicht erlaubt. Dieses Verbot wurde mit der Einengung der Sippengrenze gelockert und erstreckte sich später nur noch auf die Basen und Vettern zweiten Grades. Die Ehefrau gehörte im allgemeinen nicht zur Sippe des Ehemannes, sondern zählte weiterhin zu ihrer eigenen Sippe. Diese Verbindung äußerte sich in erster Linie darin, daß die Frau im Sprachgebrauch ihres Dorfes den Mädchennamen behielt. Ihre Sippe bot ihr aber nur dann Schutz, wenn ihr seitens des Ehemannes ein außergewöhnliches Unrecht zuteil wurde. Innerhalb der Sippe kam das patriarchalische Senioratsprinzip stark zur Geltung, das heißt, die Sippe wurde von den ältesten, den wirtschaftlich und moralisch einflußreichsten Angehörigen zusammengehalten. Da die Rolle der Sippen in der Dorfgemeinschaft in den einzelnen Gebieten und ethnischen {G-74.} Gruppen verschieden ist, stellen wir statt einer allgemeinen Beschreibung zwei archaische Formen aus dem Osten des ungarischen Sprachraumes als Beispiele vor.

Die Bukowina-Szekler wanderten im 18. Jahrhundert aus dem siebenbürgischen Szeklerland in die Bukowina und ließen sich 1945 im Südosten Westungarns, ihrem heutigen Siedlungsgebiet, nieder. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an bis hierher behielten sie ihre Sippe im Gedächtnis, und dieses Wissen verblaßte erst in den letzten Jahrzehnten. Zwischen den Sippen bestand in erster Linie aufgrund der Besitzverhältnisse eine Rangordnung. An der Spitze einer jeden Sippe stand das Oberhaupt, das die ganze Gemeinschaft repräsentierte. Bei Hochzeiten und Beerdigungen spielte der Sippenälteste eine besondere Rolle, ihm wurden das Neugeborene und die neue Frau vorgeführt. Von jedem Schlachtfest schickte man ihm eine Kostprobe. Die jüngeren Sippenangehörigen vertrat er vor dem Gericht, auf dem Mark kaufte er für sie Pferde und Kühe. Von Zeit zu Zeit rief er die wichtigeren Sippenangehörigen zur Besprechung bedeutender Fragen zusammen. Bei dieser Gelegenheit wurden die sippeninternen Gegensätze und Zwistigkeiten bereinigt. Die Oberhäupter nahmen auch an der Gemeindeverwaltung teil, da sie eine größere Einheit repräsentierten. Aus ihren Reihen gingen die Dorfschulzen hervor.

Das Sippenbewußtsein äußerte sich vor allem in der gegenseitigen Hilfe. Zu gemeinsamer Arbeit kam es beim Hausbau und zur Erntezeit. Wurde ein Sippenangehöriger von einer Naturkatastrophe heimgesucht, bemühte man sich, ihm wieder auf die Beine zu helfen. Der Kranke wurde besucht, dem Verstorbenen gab man das letzte Geleit, und an der Hochzeit nahm man gemeinsam teil. Die Sippen verfügten auch über besondere Erkennungszeichen. So trugen die Männer in der Familie Czibi am Hut eine Pfauenfeder, die sie erst im Alter an die jüngere Generation weitergaben. Selbst in unserem Jahrhundert existierte noch die Blutrache, die viele Todesopfer forderte. Wurde einem {G-75.} Sippenangehörigen ein Unrecht zugefügt, versuchte man, dieses an der anderen Sippe zu vergelten, auch wenn darunter ein Unschuldiger zu leiden hatte.

Abb. 7. Der Friedhof wiederholt das Siedlungsbild des Dorfes.

Abb. 7. Der Friedhof wiederholt das Siedlungsbild des Dorfes.
Rákosd, Kom. Hunyad, Anfang 20. Jahrhundert.
1. Fremde; 2. die Familien Bertalan; 3. Jakab; 4. Balázsi; 5. Dávid; 6. Farkas; 7. Gergely; 8. Váradi-Petõ; 9. Gäste; 10. Priester; 11. Bikfalvi-Farkas; 12. Zweitrangige Familien

Im siebenbürgischen Rákosd (Răcăşdia) wurde unter den Sippen ebenfalls nach den Vermögensverhältnissen unterschieden, doch war es auch von Bedeutung, ob zur Sippe durchweg Alteingesessene oder aber auch Zugezogene gehörten, was sich sogar in der Siedlungsweise der verschiedenen Sippen nachweisen läßt. So sind die Alteingesessenen die Vornehmeren, sie leben im unteren Teil des Dorfes, im geräumigeren und fruchtbareren Teil, während die späteren Siedler, die Armeren, sich in Felszeg (im oberen Teil) niederlassen, wo nicht nur der Boden schlechter ist, sondern wo sie wegen der Waldnähe auch mehr unter Wildschaden und Räubern zu leiden haben. Die Sippen teilen auch den Kirchhof – den an der Kirche gelegenen Friedhof – unter sich auf, und auch hier kommt die Siedlungsordnung des Dorfes zur Geltung. Ebenso wird in der Kirche eine strenge Sitzordnung eingehalten, das heißt, jede Sippe darf – gleichermaßen auf der Männer- wie auf der Frauenseite – nur ihre eigene Bank benutzen. Bereits der Einzug in die Kirche erfolgt in dieser Ordnung, während die Fremden und die Gäste den für sie bezeichneten Platz einnehmen dürfen. Die junge Ehefrau verläßt die Bank ihrer eigenen Sippe und sitzt zusammen mit der Schwiegermutter und den Schwägerinnen auf deren Bank.

Während der Begriff nemzetség (Sippe) im gesamten ungarischen Sprachraum bekannt ist, findet sich der Begriff had (Geschlecht, Haufe) nur in einem verhältnismäßig kleinen Gebiet bei den Palotzen, im Jászság (Jazygenland), im Kunság (Kumanien), im Hajdúság (Heiduckenkomitat), auf der Flußinsel Bodrogköz und in der Nyírgegend. Die Familien werden hier ebenfalls nach der Abstammung väterlicherseits zusammengefaßt, doch scheint das Geschlecht eine kleinere Einheit zu sein als die Sippe. In vielen Fällen vermengt sich der Begriff mit dem der Großfamilie oder ist sogar damit identisch. Jüngste Beobachtungen zeigen, daß das Geschlecht auch in generationsmäßiger Hinsicht enger begrenzt ist, weil es nur die Lebenden einschließt, während die Verstorbenen nicht zum Geschlecht gehören. Aber auch von den Lebenden gehören nur drei, höchstens vier Generationen dazu. So wurde ein Mann namens Hegedûs, der sich – aus der Gegend östlich der Theiß stammend – in einem Dorf auf der Flußinsel Bodrogköz niederließ, mit seinen heranwachsenden Söhnen und Enkelkindern innerhalb von ungefähr sechzig Jahren zum Gründer des Hegedûs-Geschlechts. Das heißt, das Geschlecht ist in dieser Gegend ein Begriff, der sich inhaltlich entsprechend den Gegebenheiten ständig verändern kann.

Da der Begriff had auch mit Haufe übersetzt werden kann, mag er auch mit einer gewissen militärischen Organisation der Kumanen und Heiducken zusammenhängen, die im wesentlichen bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts von Bedeutung war. Hierauf deutet in diesen Gebieten die sogenannte hadas település (Haufensiedlung) hin, das heißt, miteinander verwandte Familien besetzten einen Teil eines Dorfes oder eines Marktfleckens, und in vielen Fällen lebte eine zu einem {G-76.} Haufen gehörende Familie gleichen Namens in 4 bis 20 Häusern mit jeweils eigenem Haushalt, wobei man aber in der Arbeit und bei jedweden Schwierigkeiten einander beistand. In Jazygien wird die Bezeichnung had gebraucht, wenn die Alten innerhalb der Siedlung wohnen, während die Jungen außerhalb auf dem Einödhof wirtschaften. Es handelt sich in diesem Fall um eine gemeinsam wirtschaftende, jedoch getrennt lebende Großfamilie.

Weitläufiger als Sippe und Geschlecht oder Haufe ist die Verwandtschaft (rokonság): Sie schließt nicht nur die Verwandten väterlicherseits ein, sondern auch die mütterlicherseits. Regional wird sogar die konstruierte Pseudoverwandtschaft mit einbezogen. Niemals allerdings werden hier die bereits Verstorbenen mitgerechnet. Die Bedeutung der Verwandtschaft hat besonders in den letzten Jahrzehnten zugenommen, seit die Sippe stark zurückgedrängt worden ist. Im allgemeinen wird die Verwandtschaft bis ins dritte oder zweite Glied als solche gerechnet, in den meisten Fällen jedoch hört sie in der Breite mit dem Vetter oder der Base ersten Grades auf. Bis zu diesem Verwandtschaftsgrad wird zu Hochzeiten eingeladen, fühlt man sich verpflichtet, zu Beerdigungen zu gehen und nötigenfalls innerhalb der Familien zu helfen.