{G-77.} Pseudoverwandtschaft, Nachbarschaft

Von den zahlreichen Varianten der Pseudoverwandtschaft wollen wir nur einige erwähnen. Wegen unzureichender Forschung besitzen wir nur spärliche Kenntnisse, auch verfügen wir hinsichtlich der Verbreitung über keine entsprechende Übersicht. Eine Variante der Pseudoverwandtschaft ist unter anderem die Milchbrüderschaft. Sie besteht, wenn die Mutter ihr Kind aus irgendeinem Grund nicht stillen konnte und eine Nachbarin, eine Verwandte oder Gevatterin es an ihrer Statt tat. Dies vergaß man im allgemeinen nicht und betonte es ein ganzes Leben lang. In verschiedenen Gegenden hielt man dieses Verwandtschaftsverhältnis sogar für ein Ehehindernis. In den meisten Fällen hielten die Milchbrüder zusammen und halfen einander genauso, als wären sie echte Geschwister.

Beim Akt der geschwisterlichen oder verwandtschaftlichen Anerkennung hat früher das gegenseitige Blutkosten eine große Rolle gespielt, wodurch die Beteiligten Blutsbrüder wurden. Anonymus erwähnt in seiner Chronik (12. Jh.), daß die ungarischen Stammesfürsten bei der Landnahme einen Blutsvertrag geschlossen hätten (Ende des 9. Jh.): Nach alter Sitte haben die sieben Stammesfürsten ihr Blut in einem Gefäß aufgefangen und damit ihren Schwur auf den Fürsten Almos geheiligt. Dieser Schwur konnte nie mehr gebrochen werden, und der Blutsvertrag verband sie alle bis zu ihrem Tode. In der ungarischen Geschichte ist auch später noch mehrmals aufgezeichnet worden, daß zwei Männer, gegebenenfalls zwei kleinere Gruppen, durch einen solchen Blutsvertrag zu Verwandten wurden und einander beerbten, so als wären sie wirkliche Geschwister.

Stellenweise finden wir Zeugnisse der Blutsbrüderschaft auch bei den Bauern, so unter anderem bei den Szeklern in der Bukowina. Die Kinder spielen zusammen, doch unter den Freunden gibt es immer einen, mit dem man ein ganzes Leben lang verbunden sein möchte. In gegenseitigem Einverständnis beschließen nun die beiden, einander als Geschwister anzuerkennen. Die Blutsbrüderschaft kann immer nur zwischen Personen gleichen Geschlechts und verschiedener Sippe zustande kommen. Der Tag der Annahme der Bruderschaft fällt auf Mariä Himmelfahrt (15. August). Die beiden ziehen sich an einen Ort zurück, an dem sie keine Zeugen haben. Sie stechen sich mit einer Nadel in die Kuppe des Mittelfingers und lecken gegenseitig an dem hervortretenden Blut. Damit sind sie zu Blutsbrüdern geworden, und sie reden sich auch so an. Sie helfen einander in allen Schwierigkeiten, doch schließt die Blutsbrüderschaft ein Erbrecht nicht ein.

Abb. 8. Zahl der Taufpaten um die Jahrhundertwende im Karpatenbecken.

Abb. 8. Zahl der Taufpaten um die Jahrhundertwende im Karpatenbecken.
1. Ein Taufpatenpaar, bei jedem Kind das gleiche; 2. Ein Taufpatenpaar, bei jedem Kind ein anderes; 3. Mehrere Taufpatenpaare, bei jedem Kind gleich; 4. Mehrere Taufpatenpaare, bei jedem Kind andere; 5. Alle vier Varianten bestehen

Auch die Adoption, zu der es gewöhnlich kam, wenn die Ehe des Bauern kinderlos blieb und man die Vererbung des Besitzes garantieren wollte, ist ihrem Wesen nach eine Wahlverwandtschaft. Meist wurde aus der Verwandtschaft ein Junge ausgewählt, der namentlich adoptiert wurde. Dies war auch üblich, wenn der Vater des Kindes oder beide Elternteile verstorben waren. In solch einem Fall adoptierte eine {G-78.} verwandte Familie ein oder mehrere Kinder, obwohl eigene Nachkommen vorhanden waren. Die adoptierten Kinder waren ebenso erbberechtigt wie die eigenen.

Von allen Formen der Pseudoverwandtschaft ist die Patenschaft am weitesten verbreitet; die durch sie verbundenen Eltern nennen sich koma (Gevatter, Taufpate). Dieses Wort und aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Begriff ist im Ungarischen aus einer slawischen Sprache übernommen und mit der Bekehrung zum Christentum verbreitet worden. Nach kirchlicher Weisung war zwar nur ein Gevatterpaar möglich, doch kamen im dörflichen Alltag oftmals auch 4 bis 30 Gevattern vor, die von den Eltern unter den alten Freunden der Jugendzeit ausgewählt wurden, jedoch mußten sie immer verheiratet sein. Früher gingen die Gevattern im allgemeinen nicht aus der Verwandtschaft hervor, erst in den letzten 50 Jahren nahm man es nicht mehr so genau. Unter den Gevattern war ein Paar das Hauptgevatterpaar, dessen Name auch in das Geburtsregister eingetragen wurde. Die Hauptgevatterin hob das Kind aus der Taufe.

Bereits vor der Geburt der Kinder sorgten die Eltern für künftige Gevattern. Nachdem sie sich über die Person geeinigt hatten, erkundigten sie sich, ob nicht irgendein Grund zur Zurückweisung der Aufforderung vorläge. Erhielt man eine günstige Antwort, ging der Vater nach der Geburt des Kindes zu den ausgewählten Pateneltern, und es erfolgte die feierliche Aufforderung zur Übernahme der Patenschaft. {G-79.} Es gehörte sich für die andere Seite, die Eltern des Patenkindes bei Gelegenheit ebenfalls um die Gevatterschaft zu bitten. Das zu versäumen gilt auch heute noch als grobe Beleidigung.

Die Gevatterschaft war nicht nur zwischen Kind und Pateneltern eine außerordentlich enge Verbindung, sondern auch zwischen den Elternpaaren, die gegenseitig oft mehr füreinander taten als tatsächliche Verwandte. Die starke Bindung kam auch in der Anrede „Gevatter“ zum Ausdruck. Der Gevatterin gebührte von seiten des Kindes der Name édes komaasszony („süße Gevatterin“) ; zum Verständnis dieses Ausdrucks denke man daran, daß bei den Ungarn die Mutter allgemein édesanya (süße Mutter) genannt wurde und auch heute so genannt wird, was soviel wie liebliche Mutter heißt. Nur in zwei Fällen war die Patenschaft verboten beziehungsweise ungebührlich. Eine Frau, die menstruierte oder schwanger war, durfte das Kind nicht aus der Taufe heben. In diesem Fall übernahm die Aufgabe irgendeine andere Gevatterin. Die andere Ausnahme waren Verlobte, die eine Patenschaft deshalb nicht übernehmen konnten, weil diese nach verbreitetem Volksglauben zur Auflösung ihrer Verbindung führen würde.

Der Verwandtschaft und der Pseudoverwandtschaft ebenbürtig ist die Nachbarschaft, die auf dem unmittelbaren Nebeneinander basiert. Szomszéd (Nachbar) gehört zu den ältesten slawischen Lehnwörtern in der ungarischen Sprache. Es ist anzunehmen, daß dieses Wort so alt ist wie die Dorfsiedlungen. In einem Teil der Siedlungen haben sich Verwandtschaft und Nachbarschaft vermischt, da die Verwandten – wie wir oben ausgeführt haben – vielerorts nebeneinander wohnten. Die Bedeutung der Nachbarschaftseinrichtung geht auch aus zahllosen Sprichwörtern hervor: Ein guter Nachbar ist mehr wert als hundert schlechte Verwandte (so sagt man beispielsweise in Kiskunhalas).

Die Nachbarn wurden nach ihrer Lage unterschieden. Als erster Nachbar galt, wer an der Seite nach dem Siedlungszentrum zu ansässig war, während sich in entgegengesetzter Richtung das Haus des hinteren Nachbarn befand; der Nachbar schließlich, der am Fuß (an der Schmalseite) des Grundstücks siedelte, wurde als der tõszomszéd (etwa: Stammnachbar) bezeichnet. Für die Aufstellung und Instandhaltung des Zaunes bestanden feste Regel, so z. B. mußte jeder die Ostseite errichten und instand halten. Die Pfostenlöcher waren immer auf dem eigenen Grundstück zu graben. An den hohen Zaun durfte nur ein Schuppen mit Halbdach gebaut werden, während der Misthaufen wenigstens fünf Meter von der Grundstücksgrenze entfernt sein mußte.

Der Zaun als die Grenze ist eine außerordentlich wichtige Trennungslinie. Pflanzte man hier einen Baum, so standen die Früchte beiden Besitzern zu. Stand der Baum nicht unmittelbar an der Grenzlinie, ragten jedoch Zweige hinüber auf die andere Seite, dann durfte der Nachbar die Früchte dieser Zweige abernten, er hatte sogar das Recht, die hinüberragenden Äste abzuschneiden. Oftmals wurde der Brunnen an der Grenze angelegt, weil er auf diese Weise nur die Hälfte kostete und von beiden Nachbarn benutzt werden konnte. Federvieh, Hunde, Katzen, die sich auf fremde Grundstücke verirrten, durfte der Eigentümer des Hofes gemäß der volkstümlichen Rechtsgewohnheit töten. Da dies jedoch zu langwierigen nachbarlichen Zwistigkeiten geführt hätte, {G-80.} ist dergleichen sicher nur sehr selten vorgekommen. Die dem Nachbarhof zugewandte Rückwand des Hauses mußte der Besitzer in Ordnung halten, doch beschränkte sich dies meist nur auf einen Lehmbewurf, gekalkt wurde nur in den seltensten Fällen.

Die Beziehungen der Nachbarn hatten teils gesellschaftlichen, teils wirtschaftlichen Charakter. Die benachbarten Familien kamen entsprechend den Altersklassen zusammen. Die Kinder spielten gemeinsam, hüteten gegebenenfalls das Vieh zusammen, die Frauen besuchten sich an einem Tag sogar mehrmals, um einen kleinen Plausch zu halten, abends eventuell für längere Zeit, vor allem um zu spinnen. Die Zusammenkünfte der Männer, die man in der Tiefebene tanyázás (längeres Verweilen) nannte, fanden regelmäßig statt. Abend für Abend kamen die Nachbarn nach dem Füttern und Tränken im Stall zusammen. Eine besonders entwickelte Form dieser Treffen gab es in den sogenannten ólaskertek (Wirtschaftshöfen), die von den Wohnhäusern getrennt lagen; dort kamen die Männer zusammen und verkürzten sich durch Unterhaltung und Erzählen die langen Winterabende und -nächte.

Die Wirtschaftsbeziehungen waren gewöhnlich noch enger, zumal kaum ein Tag verging, an dem der eine vom anderen nicht etwas ausgeliehen hätte. Wenn das Salz ausgegangen war, der Paprika oder vor dem Backen das Brot, dann ging die Frau oder das Kind zum Nachbarn. Das Geliehene mußte stets genau oder noch besser überreichlich zurückerstattet werden. So heißt es denn auch in einem ungarischen Sprichwort: Geborgtes Brot ist zurückzugeben. Geliehenes Geschirr und Werkzeug wurde immer in gereinigtem Zustand zurückgebracht. Eine andere Form der Beziehungen war, daß man dem Nachbarn vom frisch gebackenen Kuchen, Brot oder anderem etwas schickte, wie man ihm auch beim Schlachtfest eine Kostprobe zukommen lassen mußte.

Der Nachbar wurde noch vor den unmittelbaren Verwandten um Hilfe gebeten. Beim Hausbau und beim Brunnenausschachten rechnete man ebenso mit ihm wie beim Schweineschlachten. Der Nachbar fehlte auch nicht bei Familienfesten, in der Regel ging man gemeinsam auf den Markt. Oftmals kam es auch vor, daß Nachbarn sich auf der Grundlage der vollkommenen Gleichheit gegenseitig bei landwirtschaftlichen Arbeiten halfen.

Im wirtschaftlichen Bereich bestehen die Nachbarschaftsbeziehungen in verschiedener Hinsicht bis in unsere Zeit. Der gesellschaftliche Kontakt dagegen wird immer mehr zurückgedrängt. Infolge der stürmischen Verbreitung von Rundfunk und Fernsehen haben die abendlichen Besuche zu einem guten Teil aufgehört. Die Zusammenkünfte in den Ställen sind selbst dort nicht mehr üblich, wo Vieh in der Hauswirtschaft gehalten wird. Die Introvertiertheit der Dorfbevölkerung entwickelt sich nach dem Vorbild der Stadt, und dementsprechend ist der Platz für zwischenmenschliche Kontakte in erster Linie der Arbeitsplatz und nicht die Wohnung.