Rätsel und Scherzfragen

Rätsel sind kurze Umschreibungen eines nicht genannten Gegenstandes oder einer Erscheinung mit Hilfe von Kennzeichen eines anderen ähnlichen Gegenstandes oder einer ähnlichen Erscheinung. Die Rätsel stehen also der Metapher nahe, das heißt, sie übertragen die Kennzeichen des zu erratenden Gegenstandes oder Phänomens auf einen anderen Gegenstand oder eine andere Erscheinung, die in der Regel in der Frage bezeichnet werden.

Das ungarische Volk fand ebenfalls und anscheinend seit den ältesten Zeiten an Rätseln Vergnügen. Sie wurden noch im 17. Jahrhundert Märchen oder Rätselmärchen genannt: „Wer mein Märchen errät“ hieß die Formel, „dem gebe ich meine Tochter zur Frau.“ In der ungarischen Volksdichtung unterscheidet man zwei Typen. Der eine ist das sogenannte „Rätselmärchen“, das heißt eine in Märchenform gebrachte und sich an eine Geschichte anschließende Frage. Häufiger sind aber die kürzeren, in der Regel aus einem Satz oder wenigen Sätzen bestehenden eigentlichen Rätsel. Besonders an letzteren fand das Volk Vergnügen. Dennoch wurden sie erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts gesammelt und aufgezeichnet.

Wie bei jedem Volk werden auch beim ungarischen solche Rätsel hauptsächlich während der gemeinsamen Arbeit, so zum Beispiel im Herbst beim Maisentlieschen und an den langen Abenden in der Spinnstube vorgebracht. An vielen Orten ist es auch üblich, bei der zeremoniellen Braunwerbung Rätselfragen zu stellen. Unter diesen kommen viele pikante, zweideutige vor.

Die Entstehungszeit von Rätseln kann nur in wenigen Fällen und auch dann nur annähernd festgestellt werden. Die im Rätsel erwähnten oder zu erratenden Gegenstände geben einen Hinweis auf das Alter des Rätsels. Wenn „Kohle“ die Antwort ist (deutsch lautet das Rätsel etwa: „Ein verkorkster schwarzer Stein, brennen kann er wunderfein“), so kann das Rätsel nicht vor der Zeit entstanden sein, seit der man in der Großen Ungarischen Tiefebene die Kohle allgemein als Heizmaterial zu benutzen begann, also um die Mitte des vorigen Jahrhunderts.

Die ältesten Rätsel sind wahrscheinlich die, die sich auf Naturerscheinungen beziehen. zum Beispiel: „Es schwärmt dicht aus dem Bienenhaus, die Sonne macht sie alle aus“ (Schneefall); „Geht und bleibt nicht stehen; liegt und steht nicht auf, verzweigt sich und treibt doch keine Blätter“ (Fluß); „Überm Berg ein goldener Knopf“ (Sonne). Ein gleicherweise alter Typ von Rätseln ist der, der sich auf Körperteile bezieht.

Selbstverständlich ist ein bedeutender Teil der Rätsel mit der Welt der Bauern, dem Ackerbau und der Viehzucht, verbunden: „Zehn {G-643.} ziehen vier“ (das Melken); „Bin die Eisenleiter aufgestiegen, hab’ mich auf den Lederstuhl gesetzt, und den Knochen Eisen beißen lassen“ (Steigbügel, Sattel, Gebiß, Pferdezahn); „Rund wie ein Apfel, faltig wie ein Rock, was ist das? Wer’s weiß, der bekommt den Preis (die Zwiebel).

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Rätsel mit direkter gesellschaftlicher Tendenz, die allerdings in den früheren Volksdichtungsausgaben nur wenig berücksichtigt wurden. In solchen Rätseln drücken sich Kritik an der Klassengesellschaft und das Selbstbewußtsein des arbeitenden Volkes aus. Zum Beispiel: „Den Herren bin ich lieb, viel Unfug ich schon trieb, wobei ich schuldlos blieb“ (Schreibfeder); ein anderes Rätsel kritisiert die Gerichtsbarkeit: „Schütt ich aus den Mohn, frißt der Krebs davon, friß du Krebs davon, laß mir meinen Lohn“.

Die künstlerische Form der Rätsel verrät einen unglaublichen Reichtum und legt Zeugnis von der Lebendigkeit des Geistes und dem Einfallsreichtum des Volkes ab. Ein bedeutender Teil der ungarischen Rätsel beruht auf der Etymologie. Hierher gehören die mit der Auflösung zusammengesetzter Wörter spielenden (Welches Schwein war nie ein Ferkel? Das Stachelschwein), besonders aber die auf Doppelbedeutung beruhenden Rätsel oder Scherzfragen. (Was macht der Wein in der Flasche? Feuchtigkeit.)

Eine andere große Gruppe ungarischer Scherzfragen hängt von der Betonung beziehungsweise der genau wörtlich genommenen Bedeutung eines einzigen Wortes ab („Wieviel Stiche sind zu einem gut genähten Hemd nötig? Kein einziger, denn es ist ja gut genäht“). Verwandt sind die sogenannten Warum-Fragen, wobei die Frage sich in diesen Fällen nicht auf den Inhalt eines ganzen Satzes, sondern bloß auf ein Wort bezieht. („Warum sucht man, was man verloren hat? Weil man nicht weiß, wo es ist“.)

Zu den Formen der Rätsel soll noch bemerkt werden, daß für einen großen Teil der Rätsel ähnlich wie für die Redensarten und die Sprichwörter eine gegliederte Struktur kennzeichnend ist; es gibt solche mit Stab- oder Endreim, ein Beweis dafür, daß sich das Volk auch im Falle des Rätsels um dichterischen Ausdruck bemüht.