Kinderspiele

Kinderverse werden zum größten Teil nur dann vorgebracht, wenn mehrere Kinder zusammen spielen. Sie haben mit den spielartigen Bräuchen gemein, daß sie sich in Wechselrede, Tanz und Gesang ausdrücken, zuweilen kommt auch Mimik dazu. Ihre Zahl ist, wenn man die häufigen Varianten in Betracht zieht, so groß, daß wir hier nicht einmal die wichtigsten eingehend überblicken können. Gruppenspiele sind etwa die folgenden: Spiele mit Rollen und Rollenwechsel, zum Beispiel Fangspiel, Weiße Lilie, Blindekuh, Wo ist der Ring? usw. Die Spielgruppe bleibt im wesentlichen unverändert, nur das aus der Gruppe ausscheidende und eine bestimmte Rolle spielende Kind (Fänger) wechselt; es singt die meist aus einem kurzen Lied bestehende Rolle ab und übergibt sie dann einem anderen Kind. Der Vorgänger bestimmt seinen Nachfolger: das ist das Hauptkennzeichen dieser Art von Spielen. Die Spiele, bei denen die Paare wechseln (Kissentanz), sind Varianten für Erwachsenere und stehen den Volksbräuchen näher. Eine Variante dieser Spiele ist, wenn der Wechsel mit Wettbewerb verbunden ist. Die Auswahl bleibt in diesem Fall der Gruppe überlassen.

Abb. 212. Drei Versionen des Krummers.

Abb. 212. Drei Versionen des Krummers.
Tiefebene, um 1930

Die andere große Art der Gemeinschaftsspiele unterscheidet sich von den bisherigen dadurch, daß die Gruppe, die Gemeinschaft, sich verändert, größer oder kleiner wird. Aus der Runde wird eine Gruppe abgezählt ; aus einem nach innen gewendeten Kreis wird ein nach außen gewandter (Abzähler, Umdreher), aus einem stehenden Kreis ein sich drehender Kreis (Brautwerbespiele, Rundgang um die Burg, Reihenspiele); aus einer schreitenden Kette wird eine Brücke gebildet (Brückenspiele und verwandte Spiele), aus einer frei weidenden Herde eine gefangene Truppe (Gänsespiele und ähnliche). Werden einzelne Mitspieler ausgewählt, dann nur zu dem Zweck, daß sie für die ordnungsgemäße Umbildung der Gruppe sorgen; sie sagen die Abzählreime auf, bestimmen, wer als nächster sich umzudrehen hat, sie leiten den Rundgang um die Burg und sorgen überhaupt dafür, daß alles geordnet vor sich geht, die Reihen hübsch gebildet werden.

276. Vogel, Kinderspielzeug, Töpferarbeit

276. Vogel, Kinderspielzeug, Töpferarbeit
Ungarn

277. Kleines Kind mit Laufgitter

277. Kleines Kind mit Laufgitter
Szentistván, Kom. Borsod-Abaúj-Zemplén

Abb. 213. Schnarre aus Schweinebeinknochen.

Abb. 213. Schnarre aus Schweinebeinknochen.
Debrecen, um 1930

Abb. 214. Brummkreisel.

Abb. 214. Brummkreisel.
Vásárosnamény, ehem. Kom. Bereg, um 1930

Das Pfänderspiel ist ebenfalls ein Spiel mit bald mehr, bald weniger Spielern. Das Kind, das einen Fehler macht, scheidet aus, läßt sich aber durch ein Pfand, das es gibt, vertreten. Die letzte Art der Kinderspiele führt bereits an die Grenze der Erwachsenenwelt. „Die einander abwechselnden, dann in einer Reihe stehenden Kinder bilden hier eine einheitliche Gesellschaft, die sich in einheitlicher, unveränderlicher Gemeinsamkeit schauspielhaft bewegt, tanzt und spielt und weder {G-652.} durch Wechsel noch durch Ausscheiden oder Hinzukommen gestört wird.“ (György Kerényi)

Abb. 215. Wägelchen von Knochen pferdengezogen (Kinderspielzeug).

Abb. 215. Wägelchen von Knochen pferdengezogen (Kinderspielzeug).
Poroszló, Kom. Heves, um 1930

Diese Aufteilung der Kinderspiele erfolgte zwar nur der Form nach, bietet aber doch einen guten Einblick in deren reichhaltige und bunte Welt. Den Folkloristen interessiert in erster Linie der Text der Kinderspiele. In diesen Texten finden sich die verschiedensten Typen der Volksdichtung. Treffend sagt Lajos Kálmány, die volkstümliche Kinderdichtung sei „eine wahre Fundgrube, ein Zufluchtsort der Volksdichtung … Von einzelnen gereimten Zeilen und Schlummerliedern bis zu fragmentarischen Balladen finden sich hier alle Zweige der Volksdichtung und der im Leben vorkommenden Handlungen … Der Baum der Volksdichtung ist weitgespannt und kreuz und quer verzweigt: seine Äste reichen durch- und übereinander, aber nirgends so stark wie hier, nämlich bei den Kinderspielen, und deswegen habe ich sie eine Fundgrube genannt; wenn der Wind an einem Zweig der Volksdichtung zerrt, beugt sich dieser so lange nach rechts und links, bis er den Zweig der Kinderspiele berührt, mit diesem zusammenwächst und dort einen wahren Zufluchtsort findet.“

Abb. 216. Burschenwappen.

Abb. 216. Burschenwappen.
Szigetköz, Anfang 20. Jahrhundert

Tatsächlich scheinen die textgebundenen Kinderspiele zu einem großen Teil alte Spuren der ungarischen Volksdichtung zu bewahren und sind so eine unschätzbare Quelle für Folkloreforscher. Schon allein die Tiere abschreckenden oder lockenden Reime bewahren zahlreiche historische Erinnerungen. So kommt in einem Störche vertreibenden Verslein ein türkisches Kind vor, was ohne Zweifel an die jahrhundertelangen Kämpfe der Ungarn gegen die Türken erinnert, und in einem Schneckenruf ist in verschiedenen Varianten bald von Türken und bald von Tataren die Rede, wobei die drohenden Worte des Textes auf deren Grausamkeit hinweisen. Die Aufzählung solcher geschichtlichen Anspielungen könnte man noch lange fortsetzen. In den Brückenspielen wird „unser guter König László aus Polen“ angerufen und der Kampf zwischen Ungarn und Deutschen erwähnt; in einem Ballspiel lebt das Andenken an König Matthias fort, in anderen Kinderspielen findet man Spuren der alten Sitte der Soldatenwerbung, aber auch die grausamen Gestalten der Volksunterdrückung, die Grundherren, ungerechten Richter und Panduren, leben in ihnen fort.

278. Gänsehirtin

278. Gänsehirtin
Kom. Nógrád

In der Kinderfolklore finden sich neben den Erinnerungen an geschichtliche Persönlichkeiten und Ereignisse auch Überreste alter Bräuche. Das kommt daher, daß die Kinder in ihren Spielen selbstverständlich die Handlungen der Erwachsenen nachahmen. In Spielen, in denen {G-654.} einzelne Tiere nachgeahmt werden (Gänsespiel, Ziegenspiel usw.), sieht die Forschung eine Nachfolge uralter Tierdarstellungen, während andere Spiele heute bereits im Schwinden begriffene Hochzeitsbräuche mit ihren alten Liedern und Tänzen bewahren.

Wenn die Kinderspiele auch tiefgehende historische Wurzeln haben, darf doch nicht vergessen werden, daß sie zumeist unter den Kindern der Gegenwart leben und daß das Überleben weit in die Vergangenheit reichender Motive nur so erklärt werden kann, daß immer wieder neue Elemente, neue und abermals neue Varianten dazukamen. Auch folgten die Spiele den gesellschaftlichen Veränderungen, die die Welt der Kinder ebenfalls nicht unberührt ließen. Manchmal änderte sich nur ein Wort, eine Formel, manchmal änderte sich sogar das ganze Spiel indem es eine neue Funktion erhielt.

279. Kinderspiel

279. Kinderspiel
Galgamácsa, Kom. Pest

280. Tanz der Halbwüchsigen

280. Tanz der Halbwüchsigen
Szék, ehem. Kom. Kolozs, Rumänien

Die geschichtlichen Elemente gehören zwar zu den interessantesten, kaum aber zu den wesentlichsten Elementen der ungarischen Kinderspiele. Wesentlich ist, daß diese Spiele gerade infolge des erwähnten {G-656.} Nachahmungsdranges des Kindes Ereignisse des wirklichen Lebens nachvollziehen. Selbst kurze Verse sind voll von Hinweisen auf die Natur, zum Beispiel die Tierwelt, doch findet man in ihnen – gar nicht an letzter Stelle – lebensnahe Bilder alltäglicher Arbeit: „Wir brechen Salz, brechen Erbsen, läuten mit dem Kürbis“, liest man in einem die Sonne hervorlockenden Vers, und es gibt kaum ein kindliches Gesellschaftsspiel, in dem nicht eine Anspielung auf verschiedene Erscheinungen der bäuerlichen Arbeit vorkommt (Tiere hüten, Ein- und Austreiben, Hacken, Spinnen und Weben, Säen, Ernten, Kochen-Backen usw.), und zwar nicht nur im Text, sondern auch in den zum Spiel gehörenden Gebärden.

Abb. 217. Kinderspielzeug aus Maisstengel.

Abb. 217. Kinderspielzeug aus Maisstengel.
a–b) Geigen. Gige, Kom. Somogy; c–d) Ochsen. Galgamácsa, Kom. Pest, erste Hälfte 20. Jahrhundert

Wenn ein Kind das Alter von zwölf Jahren erreicht hatte, galt es zwar nicht mehr als Kind, es wurde aber von den Burschen und größeren Mädchen noch nicht anerkannt. Dies erfolgte meist erst im Alter von 16 bis 18 Jahren, bei den jungen nach einem Ritual, das sich meist im Wirtshaus vollzog. Der aufzunehmende Bursche lud die älteren Burschen ein, und diese nahmen ihn beim Trinken in ihre Gemeinschaft auf. Einer der Burschen machte den Paten und begrüßte den Neuling mit den Worten: „Bis jetzt warst du mir ein guter Freund, von jetzt ab bist du mein Patensohn. Wenn jemand dich auf der Straße beim Kommen und Gehen beleidigt, werde ich schon mit ihm abrechnen.“ (Grantal.) Der so zum Burschen gewordene junge durfte nun das Wirtshaus und die Spinnstube sowie Bälle und Häuser besuchen, wo es junge Mädchen gab; er durfte Mädchen zum Tanz auffordern, und wenn er angegriffen wurde, eilten die anderen Burschen ihm zu Hilfe. Der Anführer der Burschen, der Burschenrichter, wurde jedes Jahr neu gewählt, wobei auch der Grundherr und die Vorsteher des Dorfes ein Wort mitsprachen, denn diese zahlten den Wein für ihn. Die Burschen halfen ihm bei seiner Tagesarbeit. An manchen Orten wurde die Wahl zu Pfingsten abgehalten. Da gab es Pferderennen, anderswo Ringkämpfe oder Zähmung von Stieren, wobei der Kandidat die Mitbewerber besiegen und so seine Eignung zum Burschenrichter beweisen mußte.

Abb. 218. Abzeichen des Burschenrichters.

Abb. 218. Abzeichen des Burschenrichters.
Barskapronca, ehem. Kom. Bars, Ende 19. Jahrhundert

Bei den Mädchen gab es keine so genauen Regeln wie bei den Burschen. Im allgemeinen luden Mädchen, wenn sie vierzehn wurden, die älteren Mädchen zum Abendessen ein, in deren Gemeinschaft sie dann aufgenommen wurden. Ältere Aufzeichnungen berichten vom Brauch der „Pfingstköniginwahl“; die gewählte Pfingstkönigin war dann ein Jahr lang die Anführerin der Mädchen. Doch dieser Brauch lebte nur als Kinderspiel fort.

Erwachsene Mädchen und Burschen duzten sich nicht mehr. Man traf sich bei der Arbeit, bei sonntagnachmittäglichen Spaziergängen, in der Spinnstube oder wo getanzt wurde. Wenn es in einem Hause Mädchen gab, waren die Burschen nur an bestimmten Tagen, meist am Samstag, zugelassen. Waren sich Mädchen und Bursche bereits einig, und die Eltern sahen kein Hindernis einer Ehe, durfte der Bursche das Haus öfter besuchen. Wenn das Mädchen den Burschen aus dem Haus begleitete, durfte es längere Zeit ausbleiben, ja bei den Palotzen war sogar ein Beisammensein in der Schlafkammer erlaubt, die anderen Burschen stellten dann ihre Besuche ein.