Die Dorfintelligenz

Ein bedeutender Teil der Dorfintelligenz stammte aus der Bauernschaft, beziehungsweise läßt sich ihre Herkunft über mehrere Generationen bis dahin zurückführen. Die Dorfintelligenz befand sich in einer besonderen Situation, da sie meistens – entgegen ihrer Herkunft – die ihr zuwiderlaufenden Interessen des Staates und der Gutsherren zu vertreten hatte. Hinsichtlich ihrer Lebensart imitierte sie teils die Gutsbesitzer, teils das städtische Bürgertum. Bei der Verbreitung der Allgemeinbildung kam ihr eine sehr große Bedeutung zu, die allerdings in den verschiedenen Perioden, lokal und oftmals auch individuell bedingt, wechselte.

Der Geistliche und der Dorfschulmeister kamen meist aus der Bauernschaft. Diese beiden Berufe waren eng miteinander verbunden. Im vergangenen Jahrhundert wurden die Volksschulen beinahe ausschließlich von den Kirchen unterhalten, und dieser Zustand blieb selbst bis 1948 zum großen Teil bestehen. Die Geistlichen, Lehrer und Kantoren spielten bei der Vermittlung zwischen Literatur und Volksdichtung eine sehr wichtige Rolle. Die Geistlichen, insbesondere die protestantischen, besuchten nach Absolvierung ihres Theologiestudiums in Ungarn auch andere Länder, von wo sie nicht nur theologisches, sondern auch sehr viel profanes Wissen mit nach Hause brachten. So lernten {G-83.} sie im 17. Jahrhundert in Holland die Windmühle kennen und regten den Bau der ersten Windmühlen in der Heimat an. Im 18. – 19. Jahrhundert war es wiederum die Geistlichkeit, die ihre Gläubigen mit zahlreichen neuen Pflugformen bekannt machte. Besondere Erwähnung verdient Samuel Tessedik (1742–1820), evangelischer Pastor aus Szarvas, der in seinem Buch nicht nur theoretisch auf die elende Lage der Bauern in der Tiefebene aufmerksam machte, sondern durch Gründung einer Landwirtschaftsschule, in der sich die Bauernkinder die Grundkenntnisse des modernen Ackerbaus aneignen konnten, ihr auch praktisch entgegenzuwirken suchte. Jene Schulen Ungarns, in denen die Lehrer und Geistlichen ausgebildet wurden, hatten rege Verbindungen zu europäischer Kultur, die durch ihre Vermittlung – wenn auch zeitlich verzögert – in die ungarische Bauernkultur eindrang.

Natürlich konnte die Allgemeinbildung nicht von allen Schichten erworben werden. Es mag genügen, wenn wir in diesem Zusammenhang erwähnen, daß in Ungarn im Jahre 1881 mehr als 50 Prozent der über sechs Jahre alten Bewohner Analphabeten waren. Die regionale Verteilung der Analphabeten war nicht gleichmäßig, ihr Anteil im zentralen Gebiet war wesentlich kleiner, in den Randgebieten dagegen entsprechend größer, und stellenweise erreichte er auch 90 Prozent.

Der Notar (etwa: Amtmann) war im Dorf ein Repräsentant der Staatsmacht, der zwar offiziell am Ort gewählt wurde, der aber die Anweisungen und Beschlüsse des Komitats (der autonomen Bezirksverwaltung) durchzusetzen hatte. Ein Arzt fand sich höchstens in jedem zehnten Dorf, weil sich die Ärzte lieber in den Marktflecken niederließen. So war die Dorfbevölkerung auch zur medizinischen Selbstversorgung gezwungen.

Die verschiedenen Angehörigen der Dorfintelligenz hatten mit der Bauernschaft allein offizielle Berührungspunkte. Gesellschaftliche Beziehungen unterhielten sie zu ihnen nur selten. Sie erschienen höchstens zu größeren Feierlichkeiten wie beispielsweise zu den Hochzeiten im Haus der Bauern.