Die Viehhaltung

Die Viehhaltung hatte im Mittelalter, aber auch in den späteren Jahrhunderten, in einigen Gegenden eine größere wirtschaftliche Bedeutung als der Ackerbau. Das trifft auch noch für die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu. In Ungarn entfiel 1870 auf jeden dritten Einwohner ein Rind, auf jeden sechsten ein Pferd und auf jeden einzelnen ein Schaf. Dagegen kam 1931 nur noch auf jeden fünften ein Rind, auf jeden zehnten ein Pferd und auf jeden sechsten ein Schaf. Das zeugt zugleich davon, daß sich die Wirtschaft des ganzen Landes mehr und mehr zugunsten des Ackerbaues entwickelt hat.

Die Viehhaltung spielte nicht nur für die Nahrungsmittelversorgung eine außerordentliche Rolle (Fleisch, Milch), sondern lieferte auch für die Kleidung mannigfaltige Grundstoffe (Wolle, Leder). Je weiter wir zurückgehen, desto deutlicher wird der Zusammenhang zwischen Viehhaltung und Ackerbau, denn die Tiere lieferten den Dung und {G-267.} stellten die Zugkraft für die Bodenbearbeitung und das Einbringen der Ernte.

Aus der ugrofinnischen Zeit stammen die Wörter (Pferd) und eb (Hund), doch wurden die Ungarn wahrscheinlich erst nach dem Kontakt mit den Bulgarotürken echte Viehzüchter. Wenn wir auch nicht alle ungarischen Wörter, die mit der Viehhaltung im Zusammenhang stehen, aufzählen können, so wollen wir doch an einigen Beispielen zeigen, daß viele türkische Wörter noch vor der Landnahme in die ungarische Sprache übernommen worden sind. Das Rindvieh wird nach Geschlecht und Alter unterschieden: üszõ (Färse), tinó (Farren), borjú (Kalb), tulok (Rind), bika (Stier), ökör (Ochse); auch die Wörter kecske (Ziege) und disznó (Schwein) stammen beispielsweise aus dieser Sprachschicht. Es unterliegt keinem Zweifel, daß für die frühen Magyaren – obwohl sie den Ackerbau kannten und auch betrieben – die Viehhaltung der bedeutendere Zweig ihrer Wirtschaft war.

Ihre Kenntnisse hinsichtlich der Viehhaltung konnten sie im Karpatenbecken weiter vermehren. Von verschiedenen slawischen Völkern übernahmen die Ungarn die wesentlichen Elemente der Heuwirtschaft: Ein klarer Beweis dafür, daß sie schon systematisch für die Überwinterung des Viehs Sorge trugen. Die Verwüstungen durch den Mongolensturm und die Ansiedlung der Kumanen in den mittleren Pußtagebieten im 13. Jahrhundert verstärkten in der Tiefebene von neuem die nomadischen Züge der Viehhaltung.

Hinzu kommen noch zwei weitere Faktoren. Zum einen die walachischen Hirten, die aus verschiedenen Gegenden des heutigen Siebenbürgens und der Walachei aufbrachen, im nördlichen Teil des Karpatenbeckens bis zu den mährischen Gebieten gelangten und besonders auf die Schafzucht der Palotzen großen Einfluß ausübten. Durch die rumänischen bács genannten Schafhirten, die die Gebiete östlich der Theiß aufsuchten, kann ein solcher Zusammenhang auch im Hirtenleben der östlichen Hälfte der Tiefebene nachgewiesen werden. Besonders vom 18. Jahrhundert an kamen mit westlichen Rinder- und Schafarten auch Hirten hauptsächlich nach Westungarn, deren Spuren bis heute aufzufinden sind.

In den historischen Perioden entfalteten sich verschiedene Formen der Viehhaltung, die eigentlich abstrakte Kategorien sind, die nie rein auftraten, da sich unter ihnen außerordentlich viele Varianten des Übergangs befinden.

Das Wesen der wilden oder extensiven Viehhaltung besteht darin, daß das Vieh das ganze Jahr im Freien verbringt. Im Winter werden die Herden in verschiedene unbedeckte oder halbbedeckte Bauten, in Schilfdickichte oder Wälder getrieben. Hier wurde für die Zeit, in der die Weiden von Schnee bedeckt sind, Futter angehäuft. In der Tiefebene waren solche Viehhaltungszentren zuerst die Einödhöfe, wofür es Entsprechungen zwar mit anderer historischer Entwicklung, aber mit ähnlicher Funktion hier und da auch in Berggegenden gibt. Die im Freien gehaltenen Tiere brachten ihre Nachkommenschaft ebenfalls im Freien zur Welt. Vieh wurde meist zum Schlachten verkauft oder als Arbeitstier verwendet.

Bei halbwilder Zucht werden die Tiere vom Frühling bis zum {G-268.} Spätherbst – gewöhnlich bis zum ersten Schneefall – auf der Weide gehalten. Danach kommen sie in den Stall, in einen überdachter Pferch oder in andere Bauten; wenn es jedoch das Wetter erlaub: wird das Vieh auch im Winter auf die Weide getrieben. Diese Form ist nicht nur in der Tiefebene allgemein, sondern auch im Szeklerland, wo die Pferdeherde vom Frühling an im Freien grast; sobald der erste Schnee fällt, werden die Pferde in die Scheunen, die sich in den Bergen befinden, getrieben. Dort sind sie nicht angebunden, erhalten aber regelmäßig Futter und werden nur bei geeignetem Wetter hinausgelassen.

Die Wanderschäferei (Transhumanz) vereinigt viele Züge der beiden oben genannten Formen und verweist die Tiere im größeren Teil des Jahres zumeist auf die Weide. Charakteristisch ist, daß der Hirt mit der Herde zu einem gegebenen Standort zurückkehrt, die meiste Zeit des Jahres aber von einem Weidegelände zum anderen wandert. Gewöhnlich haben die Herden eine Winter- und eine Sommerherberge. Im Winter wird die Herde an einen Ort getrieben, wo es eine brauchbare Weide gibt oder wo sich billiges Futter beschaffen läßt. So wurden die Schweine im Winter in Eichenwäldern mit Eicheln gefüttert, wobei man die Schweineherden zu diesem Zweck oft mehrere hundert Kilometer weit trieb. Solche Wanderungen zu den Weideplätzen kamen im Karpatenbecken bis zur jüngsten Zeit vor.

Die Stallhaltung ist zwar vom Mittelalter an sporadisch nachweisbar. aber allgemein dominierend wurde sie erst, als ein bedeutender Teil der Weiden umgebrochen und nach Aufhebung der Leibeigenschaft die Weiden der Gutsherrschaften von denen der Bauern getrennt wurden. Wegen des verminderten Weidelandes waren die Bauern zur Stallhaltung und Stallfütterung des Viehs gezwungen. Vom Frühling bis zum Spätherbst trieben sie das Vieh täglich auf die Weide außerhalb des Dorfes, gaben ihm aber allabendlich im heimischen Stall auch noch Futter. Die zur Feldarbeit herangezogenen Pferde und Ochsen ließ man von größeren Kindern für die Nacht auf das Brachfeld oder Stoppelfeld führen, damit sie das knappe Stallfutter nicht verbrauchten.